Einleitung

Wir schreiben das Jahr 2364 des Eisernen Zeitalters.

Nachdem er im Wald der Verfluchten an der Seite des Weißen Schattens gegen vielerlei Widrigkeiten ankämpfen musste, hat Naron mit seinen Begleitern endlich die Grenze nach Erbarior überschritten.

Doch auch dort bleibt ihm nur wenig Zeit zu Verschnaufen, denn dunkle Mächte haben sich gegen seinen Begleiter Rexian verschworen. Nicht nur die Mursogi unter Omrunas trachten dem König von Erbarior und seinem tapferen Helfer nach dem Leben – auch aus den eigenen Reihen droht ihm so manche Gefahr.

Alsbald findet sich Naron inmitten eines Netzes von Ränken wieder, die mächtige Fürsten und Hauptmänner um sich schmieden. Mehr und mehr wird er selbst zur Zielscheibe. Unterstützung erhält er schließlich von höchst unerwarteter Seite …


Lasst Euch von den Winden des Schicksals tragen, wie es Euch beliebt:

Leseprobe aus Kapitel V

Vor Naron lag ein weiteres niedriges, fast höhlenartiges Gewölbe. Zwei Reihen im Kreis angeordneter Säulen umgaben eine runde Fläche in der Mitte. Kerzen bedeckten dort den Boden. Die meisten waren längst erloschen und zerflossen, einige brannten aber noch und hüllten die Stätte in ein schauriges Licht. Dort erhob sich ein schmuckloser, steinerner Altar, dessen Oberfläche mit dunklen Flecken bedeckt war. Der Geruch von Wachs, Eisen und vertrocknetem Blut lag in der Luft.
Etwas abgrundtief Böses ging von diesem Ort aus. Zwar glaubte Naron den Zweck dieses Gewölbes durchaus erahnen zu können, dennoch hoffte er, dass er sich irrte. Warum gab es im Königspalast überhaupt einen solchen Raum? Rexian würde einiges erklären müssen.
Vor dem Altar standen zwei Gestalten. Bei der einen handelte es sich um einen großen, schlanken Mann. Langes rötlich schwarzes Haar umgab sein jugendliches Gesicht. Ein kurzer, gekrümmter Dolch hing an dem Gürtel, der sein enganliegendes, bodenlanges Gewand aus schwarzer Seide zusammenhielt. Seine Arme hatte er vor der Brust verschränkt, sein Blick war herablassend.
Die Gestalt neben ihm war etwas kleiner. Sie trug einen langen, dunkelgrünen Mantel mit einer großen Kapuze. Da Naron nur ihren Rücken sah, konnte er nicht sagen, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau oder überhaupt ein menschliches Wesen handelte. Einen Augenblick lang dachte er an Omrunas, doch der Anführer der Mursogi war noch ein wenig kleiner.
»Bormias«, sagte der Mann in Schwarz abfällig, als Omrunas’ Diener an das seltsame Paar herantrat. Die beiden Söhne der Gruft hielten sich im Hintergrund. »Was führt Euch ins Allerheiligste? Warum erdreistet Ihr Euch, meine Herrin in ihrem Gebet zu stören?«
»Das könnt Ihr Euch bestimmt denken«, erwiderte Bormias. Er würdigte den Mann keines Blickes. »Die Geduld meines Meisters geht zur Neige. Er ist es leid, zu warten. Er verlangt Ergebnisse. Wo ist der letzte Schlüssel, Virisare? Sprecht!«
Naron horchte auf. Der Schlüssel! Gegen seinen Willen wanderte sein Blick zu seinem linken Handgelenk, wo – unsichtbar unter Kleidung und Rüstung – besagter Schlüssel lag.
»Wie könnt Ihr es wagen, in einem solchen Ton mit meiner Herrin zu sprechen?«, rief der Mann mit den rotschwarzen Haaren aufgebracht. »Ihr vergesst Euren Platz. Ich sollte Euch …«
»Schweig, Noruthol!«, unterbrach ihn die vermummte Gestalt, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme war eindringlich und gebieterisch. Es war die helle Stimme einer Frau, doch sie hatte etwas ganz und gar Unheilvolles an sich. »Bormias, ich kann die Ungeduld deines Meisters gut verstehen. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der es gewohnt ist, zu bekommen, wonach er strebt. Wir haben doch alle unsere Ziele, die wir so schnell wie möglich erreichen wollen … Doch sollte er sich dessen wohl bewusst sein, dass auch er im Zuge unserer Abmachung Pflichten zu erfüllen hat. Zu drei Schlüsseln verhalf ich ihm bereits. Den vierten soll er bekommen, sobald Daiwanir auf dem Falkenthron sitzt.«
»Seid Ihr dieses Spiel nicht langsam leid?«, fragte Bormias gelangweilt. »Wozu das alles, Virisare? Wenn Ihr den Thron wollt, warum nehmt Ihr ihn Euch nicht einfach?«
»Wahrlich, man merkt Euch an, dass Ihr nicht von hier seid«, antwortete Noruthol für seine Herrin. Bormias warf ihm einen giftigen Blick zu. »Vielleicht kann sich in der Wildnis, die Ihr Euer Heimatland nennt, jeder Emporkömmling mit genügend Schwertern eine Krone aufsetzen, doch den Thron von Erbarior kann man sich nicht einfach so nehmen. Und selbst wenn … Das entspräche nicht unserer Art.«
»Das ist ja wirklich alles sehr schön für Euch«, erwiderte Bormias. »Aber lasst Euch nicht zu viel Zeit. Ihr solltet wissen, dass Horonchor in der Stadt ist. Wenn Ihr schon betet, dann solltet Ihr vielleicht dafür beten, dass Ihr niemals seine Bekanntschaft machen werdet.«
»Horonchors Ruf ist uns wohlbekannt«, sagte Noruthol missbilligend. »Wir fürchten ihn nicht mehr, als wir Euch und Euren Meister fürchten.«
»Ein großer Fehler, das versichere ich Euch«, murmelte Bormias. Seine Hände wanderten zu den Griffen seiner Dolche.
Virisare drehte sich ruckartig zu ihm um. Für einen kurzen Augenblick blitzten ihre grünen Augen im Kerzenlicht auf, dann versank ihr Gesicht im Schatten unter der schweren Kapuze. »Drohst du mir etwa?«, fragte sie. Eisige Kälte lag in ihrer Stimme. »Dein Meister verliert also die Geduld und schickt seinen Vollstrecker Horonchor, um mir Angst zu machen? Ich verliere auch langsam die Geduld … Mittlerweile sollte Omrunas wissen, dass ich mich nicht zum Narren halten lasse. Dieser verfluchte Blendling Rexian läuft immer noch frei herum. Und was tut ihr dagegen? Nichts, wie mir scheint …«
Bormias fletschte die Zähne. »Unsere Späher mögen ihn vielleicht noch nicht abgefangen haben, doch das werden sie, keine Sorge. Rexian wird nicht einmal in die Nähe der Hauptstadt gelangen.«
Naron gestattete sich in seinem Versteck ein Lächeln.
»Große Worte, nichtsdestoweniger leere Versprechungen«, sagte Noruthol. »Immer wieder frage ich mich, wie es dazu kam, dass der falsche König Eurem Meister entwischen konnte … Wo er doch nur sein Schwert ausholen und zuschlagen hätte müssen.«
»Omrunas ist wie eine Katze«, bemerkte Virisare. »Er spielt mit seiner Beute, anstatt sie auf der Stelle zu töten. Eine bedauernswerte Schwäche, die uns den Sieg kosten könnte …«
»Es war auch nicht die Absicht meines Meisters den König zu töten«, entgegnete Bormias. »Rexian wird am Leben bleiben, bis wir alle Schlüssel haben. Er soll uns als Unterpfand dafür dienen, dass Ihr Euer Wort haltet.«
»Ihr wagt es, Zweifel an unserer Treue zu hegen?«, rief Noruthol erbost.
»Ihr habt zwei Eurer Könige verraten und sprecht von Treue? Dass ich nicht lache …«, sagte Bormias ruhig. »Wer soll Euch davon abhalten, auch meinen Meister zu verraten, sobald der Falkenthron Euer ist?«
Noruthol setzte zu einer Erwiderung an, doch seine Herrin kam ihm zuvor. »Zarthos möge mein Zeuge sein, dass ich niemals einen Verrat beging. Mein Gewissen ist rein. Recalion war nichts weiter als ein Thronräuber und der Anspruch seines Sprosses ist nicht größer als der seine.«
»Wenn Ihr das sagt …«, meinte Bormias schulterzuckend.
»Was aber Omrunas’ Misstrauen betrifft«, fuhr Virisare fort, »so magst du versichert sein, dass es auf Gegenseitigkeit beruhe. Er ist ein Narr, wenn er denkt, irgendetwas vor mir verbergen zu können. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Teil unserer Abmachung war, die Mursogi auch in Ertanien einfallen zu lassen.«
Bormias grinste gehässig. »Seht ihre Gegenwart dort als weiteren Anreiz dafür an, Euer Wort zu halten«, sagte er. »Die Mursogi werden sich aus Ertanien zurückziehen, sobald mein Meister erhält, was Ihr ihm schuldig seid. Fürs erste solltet Ihr froh darüber sein, dass sie Unruhe stiften. Sie zwingen die Fürsten dazu, schneller zu handeln und Eurem geliebten Daiwanir endlich die Krone aufzusetzen …«
Anscheinend gab es nichts mehr, was Bormias zu sagen gehabt hätte. Mit einer spöttischen Verbeugung drehte er sich um und schritt davon. Die beiden Söldner folgten ihm eilig.
»Nicht so schnell!«, rief Virisare in gebieterischem Tonfall. »Wir sind hier noch nicht fertig!«
Der bleiche Schurke hielt inne. Widerwillig, fast wie unter Zwang, wandte er sich erneut der vermummten Frau zu.
»Ich schätze es nicht besonders, wenn man mich hintergeht oder mir droht«, stellte sie klar. »Omrunas vergisst seinen Platz. Denn was wäre er ohne mich? Nichts! Allerhöchstens ein armer, entstellter Irrer, der in der Wildnis Gerüchten nachjagt … Wenn er nicht davon ablässt, mir Ärger zu bereiten, werde ich ihm alles nehmen, was ich ihm gab. All seine Fortschritte werde ich ihm zunichtemachen. Berichte ihm dies von mir!«
Bormias nickte steif. »Was aber diesen Horonchor betrifft«, fuhr sie fort, »so darfst du ihm ausrichten, er solle auf der Stelle aus meiner Stadt verschwinden. Ich habe keinerlei Verwendung für ein blutrünstiges Kindermädchen, das mir bei jedem Schritt über die Schulter blickt. Wenn dieser Vollstrecker seinem Ruf gerecht wird, sollte dein Meister ihn auf Rexian ansetzen und damit diese leidige Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt schaffen.«
Bormias’ Haltung entspannte sich ein wenig. »Ich werde es ihn wissen lassen«, sagte er leise.
»Außerdem gibt es da noch zwei kleine Gefallen, die du mir erweisen könntest, wenn dir etwas an meiner Zusammenarbeit mit deinem Meister liegt«, sagte Virisare. Ihr Tonfall war der eines Befehles, nicht der einer Bitte.
»Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Herrin?«, fragte Bormias mit nahezu übertriebener Unterwürfigkeit. »Wenn es in meiner Macht steht, werde ich es tun.«
»Sehr gut, du bist ein kluger Mann, Bormias«, bemerkte Virisare mit Genugtuung. »Noruthol wird dich einweihen.«
Damit wandte sie sich wieder dem Altar zu. Ihr Diener trat nach vorne. »Euer erstes Ziel ist Recalions Tochter Reméa«, erklärte er. »Unzählige gedungene Meuchelmörder versuchten sich bereits an ihr. Bisher leider ohne Erfolg.«
»Was macht es schon, ob sie lebt oder stirbt?«, fragte Bormias teilnahmslos. »Sie ist ein Kind, nichts weiter …«
»Und Rexians Erbin, wie Ihr wohl vergessen habt«, erwiderte Noruthol. »Solange sie am Leben ist, wird es jene geben, die Daiwanirs Herrschaft, die Herrschaft meiner Herrin, anfechten werden. Wir wollen ihren Kopf. Bringt ihn uns!«
»Meinetwegen« sagte Bormias so ungerührt, als ginge es darum, ein Schwein zu schlachten. »Wenn Euch der Tod eines Kindes Genugtuung verschafft … Wer soll noch sterben?«
»Daiwanir«, antwortete Noruthol.
Nun konnte Bormias seine Verwirrung nicht verbergen, ebenso wie Naron in seinem Versteck. »Das kann doch wohl nicht Euer Ernst sein«, knurrte Omrunas’ Diener. »Wolltet Ihr Daiwanir nicht eben noch auf dem Thron sehen?«
»Das wollen wir in der Tat«, erwiderte Noruthol, der die Verwirrung seines Gegenübers sichtlich genoss. »Er war bisher ein gehorsamer Spielstein; tat immer das, was man ihm sagte. Er war ein wirklich nützliches Werkzeug. Allerdings scheint er langsam – so seltsam das bei einem Mann seines Schlages auch klingen mag – ein Art Gewissen zu entwickeln. Er stellt Fragen und handelt bisweilen eigenmächtig und gegen den Willen meiner Herrin. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass uns diese Entwicklung gar nicht gefällt.«
»Ich verstehe«, sagte Bormias.
»Lasst ihn sich ein paar Tage an der Krone erfreuen, bevor Ihr ihn dann leise und unauffällig beseitigt«, befahl Noruthol. »Das wird doch nicht etwa zu viel verlangt sein, oder?«
»Ich werde mich selbst darum kümmern«, erwiderte Bormias seufzend. »Das scheint mir ein angemessener Preis für Eure Dienste zu sein. Falls Ihr jedoch mit dem Gedanken spielen solltet, meinen Meister und mich zu hintergehen, werden es stattdessen Eure Schlafgemächer sein, die ich heimsuchen werde …«
Noruthol verzog das Gesicht, Virisare kicherte. »Ich mag Menschen wie dich, Bormias aus Amrian«, sagte sie. »Keine Zweifel, keine Ehre, kein Gewissen. All dies würde dich nur bei deiner Arbeit stören. Warum wendest du dich nicht von deinem Meister ab und trittst in meine Dienste? Ich könnte dir so viel mehr geben als Omrunas …« Ein Hauch von Sinnlichkeit lag in ihrer Stimme.
»Vielleicht könntet Ihr das«, erwiderte Bormias ungerührt. »Doch auch wenn ich Eurer Ansicht nach keinerlei Werte kenne, so gibt es doch etwas, was ich über alle Maßen schätze: Die Treue zu meinem Meister …«
»Überaus bedauerlich«, bemerkte Virisare mit einer Stimme, die keinerlei Bedauern ausdrückte. »Doch sei es, wie es sei. Erledigt dies für mich und der Schlüssel soll Omrunas gehören.« Sie seufzte. »Zum Zeichen meines guten Willens werde ich deinem Meister sogar einen kleinen Hinweis geben. Niemand soll behaupten, dass Xerónos’ Geschlecht keine Großzügigkeit mehr kennt.«
»Wie überaus freundlich von Euch, Virisare«, erwiderte Bormias mit unergründlicher Miene. Missmutig verschränkte er die Arme.